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Dieses Thema hat 6 Antworten
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 Judentum
Thomas Offline

mishtatef


Beiträge: 297

30.07.2006 11:12
Chassidische und Kabbalistische Märchen und Geschichten Antworten

PS. normalerweise poste ich nicht so fette Texte, aber dieser hier Lohnt sich wirklich zu lesen:


Die fliegende Raupe

von Gilad Shadmon

Übersetzung von Peter Staaden


Es war einmal, vor sehr langer Zeit, eine Familie von Raupen, die auf einem sehr alten Maulbeerbaum lebte. Sie krochen aus ihren Eiern heraus, aßen während ihres Lebens viele Blätter, und vollendeten es, in dem sie sich in eine Puppe verwandelten. Diese Raupen hatten eine kluge Weltsicht, aber sie konnten sich nicht vorstellen, wo die Eier herkamen, denen sie entsprungen waren. Sie nahmen an, dass sie aus diesen Eiern stammten, denn sie sahen, wie die jungen Raupen herausschlüpften. Da die Schmetterlinge aber nachts ihre Eier ablegen, konnten die Raupen nicht wirklich wissen, woher sie kamen.

Trotz allem hätten die Raupen, selbst wenn sie nachts hätten sehen könnten, die Schmetterlinge nicht wahrgenommen, denn sie können nur nach unten schauen, in Richtung des Blattes, welches sie gerade verzehren wollen. Zudem bevorzugen es die Schmetterlinge, über den Blättern zu fliegen, und sie nur selten mit den Enden ihrer Beinchen zu streifen.

Woher stammten die Eier, gibt es ein Weiterleben nach der Verpuppung, diese Fragen interessierten keine große Anzahl von Raupen. Sie waren meistens damit beschäftigt, die saftigsten und grünsten Blätter zu verspeisen. Im allgemeinen beschränkten sich ihre Unterhaltungen darauf, wie man die äußersten Äste erreicht, und wo die grünsten und wohlschmeckensten Blätter wachsen. Nach ihrer Vorstellung ist man die glücklichste aller Raupen, wenn man es geschafft hat, das entfernteste und grünste Blatt zu erreichen.

Manchmal mussten die Raupen den Maulbeerbaum verlassen und herabsteigen, um dann eine mühsame Reise zu unternehmen: hinüber zum nebenstehenden Baum, denn bei den Nachbarn sind die Blätter immer viel grüner. Aber nach einer kurzen Weile waren sie glücklich zu ihrem alten guten Baum zurückzukommen, den Geschmack von früher wiederzufinden, den so sehr gemochten Geschmack ihrer Väter, und Großväter.

In Wahrheit hatten die Raupen nur vor zwei Dingen Angst: vor heftigen Winden und gierigen Vögeln. Ein plötzlicher Windstoß konnte stark an den Blättern und feinen Zweigen des Baumes rütteln; eine junge Raupe ohne Erfahrung, die noch nicht gelernt hat, sich richtig festzuklammern, so wie es eigentlich notwendig ist, würde plötzlich durch die Luft katapultiert und direkt auf die Erde fallen.

Nach einem solchen Unfall und Traumatismus gelang es den wenigsten Raupen, mit letzter Kraft zu ihren Familien zurückzukehren. Jedoch waren sie danach nie mehr die selben: sie wirkten befremdlich, einige sprachen von fliegenden Umrissen, die sie während ihres Fallens gesehen hatten, und die sie "Schmetterlinge" nannten.

Sie konnten wunderschön die Form und die Farbe dieser Schmetterlinge beschreiben, jedoch niemand unter den Raupen, einschließlich der ältesten, verstand sie richtig. Anstatt sich ihrer Hauptaufgabe zu widmen und zu kriechen, begannen sie, ihren Blick nach oben zu erheben und so befremdliche Fragen zu stellen, wie: "Das Ei, wie ist es gemacht?", "Was geschieht den alten Raupen nach ihrer Umwandlung zur Puppe?" usw. Deshalb bezeichneten sie die anderen Raupen als fliegende Raupen.

Manchmal erschienen Raubvögel, von woher, wusste man nicht. Es kam vor, dass eine Raupe in aller Ruhe das Ende eines besonders grünen Blattes mit einem Kameraden verspeiste, und plötzlich ohne jegliche Vorwarnung fasste ein gewaltiger Schnabel den Kameraden um den Hals und nahm ihn in Richtung des Himmels mit. In diesem Fall war es nicht, wie bei den Raupen, die durch die Windstöße mitgenommen wurden. Nein, man konnte sicher sein, jene nicht mehr wiederzusehen, die in das Land der Vögel getragen wurden, von wo niemand, sogar die kräftigste Raupe nicht mehr zurückkommt.

Der einzige Schutz, den die Raupen gegen die Raubvögel kannten, war nur präventiv: die Alten lehrten die Jüngeren, nicht aufzufallen: "Du kannst auf der Unterseite des Blattes bleiben" sagte die Alte zu ihrem jungen Schüler "dort werden dich die Vögel nicht entdecken, aber du wirst bei dem ersten Windstoss herunterfallen."

"Die zweite Regel, an die du dich immer erinnern musst, ist, dass du an den Enden der Zweige sichtbarer bist, bleibe also in der Gruppe, in der Mitte des Baumes."

"Und, wenn ich bis zum Gipfel gehen möchte, um ein gutes kleines grünes Blatt zu probieren, ein ganz frisches?" erkundigte sich der Schüler. "Du musst wissen, dass du in diesem Fall einer sehr ernsten Gefahr ausgesetzt bist" antwortete die Alte, "du könntest abstürzen oder sogar gefressen werden."

"Die dritte Regel ist" sagten die Alten, "dass man langsam vorrücken muss. Kein Blatt ist jemals einer Raupe entkommen. Seit euch immer bewusst: "Wer schnell geht, kann schnell das Leben verlieren".

Avri schlüpfte aus einem grauen Ei auf die Welt, und das war schon ein sicheres Zeichen für zukünftige Probleme. Die Mehrzahl der Raupen, die aus grauen Eiern zur Welt kamen, wurden später zu keiner Puppe. Und es ist eine Tatsache, dass Avri nach dem er auf die Welt gekommen war, als erstes fragte: "Welches ist der kürzeste Weg, um die Spitze zu erreichen?" Die Alten haben so gut wie möglich versucht, ihn zu bremsen, aber leider vergeblich. Er wollte so schnell wie möglich groß werden, deshalb machte er so ziemlich alle Dummheiten, die eine Raupe so anstellen kann.

Er rückte schnell vor, er aß die Blätter von der Oberseite. Er besaß ganz einfach nicht die Zeit, auf ihrer Unterseite zu rutschen. Ständig hatte er nur ein Ziel vor den Augen: das oberste Ende der Baumkrone zu erreichen. Alle anderen Raupen, die seinen Weg kreuzten, rieten ihm langsam zu machen, sich zu beruhigen, sich auszuruhen und sich um sich selbst zu kümmern, doch er hörte nicht auf sie. Nach zwei ein halb Wochen hatte er fast die Krone erreicht, und schritt von Zweig zu Zweig fort. Seine Beine waren fest, seine Kiefer waren stark geworden, und die Klauen hatten sich geschärft, aber trotzdem war er mager, weil er sich nicht die Zeit nahm, richtig viel zu essen, und weil er viel Energie für seinen erschöpfenden Marsch verbrauchte. Je weiter er aufstieg, desto mehr erschien im das Licht der Sonne, und das ermutigte ihn.

Die Blätter wurden immer grüner und ließen Stücke blauen Himmels erscheinen. Er hatte viele Raupen gesehen, die in der Mitte des Baumes angekommen waren und dort blieben, etwas weniger Raupen erreichten das höhere Viertel und waren auch damit zufrieden, noch weniger hatten fast das Ende der Baumkrone erreicht und waren dort angehalten. "Ihr habt doch so viel Energie verbraucht" fragte sie Avri "weswegen macht ihr nicht noch eine kleine Anstrengung, um zu schauen, was es auf der Spitze gibt?".

Als Antwort hörte er alle möglichen Rechtfertigungen: "Ich habe keine Kraft mehr", "Ich habe Hunger", "Hier sind die Blätter schon sehr viel grüner als jene, die ich sah" und "Der Baum hat kein Ende, er wächst schneller als wir" und noch viele andere Ausflüchte. Als er das höchste Blatt erreichte, traf er dort eine graue, gut genährte Raupe, die damit beschäftigt war, das Ende eines Blattes abzunagen.

"Ist es gestattet, mich dazuzugesellen", fragte er höflich. "Natürlich" antwortete ihm die Raupe, währen sie weiter an dem Blatt knabberte. Das war ihr letztes Wort, und Avri sah nur noch, wie sie wehrlos zwischen den zwei Zangen eines dunklen Schnabels davongetragen wurde. Da wurde Avri von solch einer starken Angst gepackt, dass seine starken Beine ihn nicht mehr festhalten konnten. Die Legende besagt, dass der Schnabel das Blatt, auf dem Avri saß, herausgerissen hat, und es somit seinen schwindelerregenden Fall verlangsamte und abbremste.

Auf der Erde angekommen, rappelte er seine verbliebenen Lebensgeister zusammen, um sich bewusst zu werden, was gerade passiert war. Sein Sturtz hatte nur einige Sekunden gedauert, aber während dieser Zeit hatten sich eine Menge außergewöhnlicher Dinge ereignet, die seine Angst zum Verschwinden brachten, ihm sogar im Gegenteil Vergnügen bereiteten.

Am Anfang sah er die anderen Raupen, die mit tief gesenktem Kopf damit beschäftigt waren, Blätter zu verzehren. Er hatte geschrien, um gesehen zu werden, aber niemand hatte ihn gehört. Der Lärm der nagenden Kiefer erstickte jeden anderen Laut. Dann sah er schöne mehrfarbige Kreaturen, die neben den Raupen und zwischen den Blättern hin und herflogen. Sie drückten sich gegeneinander oder legten Eier. "Das sind wahrscheinlich Schmetterlinge" dachte er.

Er hätte schwören können, dass er gehört hätte, wie sie untereinander sprachen, oder genauer gesagt, untereinander sangen, und dieser Gesang war überaus angenehm zu hören. Er begann zu denken, dass er wohl gestorben war, und in der anderen Welt sei, aber er fühlte noch diesen fürchterlichen Schock, und hatte sich deshalb zum Ausruhen, auf einen am Boden liegenden Blätterteppich ausgestreckt. Das ließ ihn wieder in die Wirklichkeit zurückkehren, die er soeben für einige Sekunden verlassen hatte: nun war er nur noch eine einfache, kleine, graue Raupe.

Nach einer erschöpfenden Reise, die eine weitere Erzählung wert wäre, kehrte Avri in die Gesellschaft der Raupen zurück. Sehr schnell begriff er, dass er nichts Gemeinsames mehr mit den anderen hatte. Die grünen Blätter interessierten ihn nicht mehr, sogar die Baumkrone war eine Etappe, die zur Vergangenheit gehörte. So beschloss er, Schmetterling zu werden. Man sagte ihm: "Seitdem du gefallen bist, stimmt irgend etwas nicht in Deinem Kopf, lass uns in Ruhe und webe Dir eine Puppe!"

Diese Worte stellten in der Welt der Raupen eine Beleidigung dar, und Avri gehörte nicht zu denen, die Worte auf die leichte Schulter nahmen, da sie ihm auch im Zorn entgegengebracht wurden. So begann er, das Phänomen der Verpuppung zu untersuchen. Er erinnerte sich, dass die Schmetterlinge sehr stark den Raupen ähnelten, aber dass sie Flügel hatten. Könnte es sein, dass es geflügelte Raupen sind?

Eine Sache war sicher und vom Beginn der Nachforschungen an klar, keiner hatte es bisher für nötig gehalten, ihm diesen Vorgang irgendwie zu erklären. Es interessierte ganz einfach niemanden. Wenn es jemand mit guten Absichten untersucht und überprüft hätte, wäre bestimmt bemerkt worden, dass von den Raupen innerhalb der Puppe keine Spur zurückblieb. Wo gingen sie also hin? Könnte es denn sein, dass sie ganz einfach nur so verschwinden?

Avri beschloss, einer alten Raupe zu folgen und den gesamten Vorgang zu untersuchen. Er beobachtete, dass sie mit der Zeit immer größer und größer wurde, immer mehr ermüdete, und sprach, dass sie genug davon habe, Blätter zu essen, dass, selbst wenn man ihr ein gutes, kleines frisches Blatt vom Ende des Baumes brächte, es sie nicht mehr reizen würde. Dann hörte er sie endlich sagen – worauf er schon so lange gewartet hatte -, dass sie zur Puppe werden wolle.

"Es ist ein ganz natürlicher Vorgang" sagte die alte Raupe, und sie begann, damit ein Tuch zu weben. "Tue mir einen Gefallen" bat Avri, "wenn Du nach der Verpuppung ein Schmetterling wirst, kommst Du mich besuchen, einverstanden?" "Hör’ doch mit diesen Dummheiten auf", antwortete ihm die Raupe, "du und ich, wir wissen, dass die Puppe das Ende ist." Aber Avri flehte sie immer wieder an, bis sie schließlich einverstanden war, damit er endlich aufhörte, sie zu belästigen, während sie ihre Puppe weiterwob. Nach zwei Tagen war die Raupe durch einen schönen runden Kokon bedeckt, bis sie schließlich ganz in seinem Inneren verschwand.

Aber Avri gab nicht auf. Der Eigensinn war in ihm bereits durch seine grauen Gene vorherbestimmt, und er nutzte diese Qualität bis zum Schluss. Tage und Nächte verbrachte er bei der Puppe, und lehnte es ab, den abschreckenden Reden seiner Freunde zuzuhören, die versuchten, ihn davon zu überzeugen, wieder in ein normales Leben zurückzukommen. "Ich habe überhaupt keine Lust und Appetit, mir Blätter zu erträumen, wenn ich mein Leben in einer Puppe beenden muss, wenigstens will ich wissen, was aus mir wird".

Er schlief praktisch nicht mehr, denn er befürchtete, dass etwas passieren könne, während er ruhte. In den dunklen Nächten, als die Sicht stark begrenzt war, schlummerte er ein wenig, indem er sich auf die Puppe stützte, um geweckt zu werden, wenn diese auch nur die geringste Bewegung machte. Und genau dies geschah. Gerade, als die ersten Zeichen von Hoffnungslosigkeit sich in ihm breit machten, als der Hunger ihm seinen leeren Magen verdrehte, begann die Puppe sich zu bewegen.

Dieses Schauspiel brachte ihm die Hoffnung zurück. Nach und nach begann sich die Puppe langsam zu spalten, bis ein Riss sich gänzlich auftat... und ein kleiner schwarzer Kopf daraus hervorschaute. Einige Sekunden rüttelte es so stark, dass Avri einen Sprung rückwärts machte. Die Puppe hatte sich in zwei Teile geöffnet, und zwei farbige Flügel, die genauso aussahen wie jene, die er während seines Absturtzes gesehen hatte, entfalteten sich majestätisch. Sie machten eine Bewegung in der Luft und brachten einen prächtigen Schmetterling Stück für Stück, vor dem Hintergrund des blauen Himmels, zum Vorschein. Avri fuhr erschreckt zusammen und sein Herz bebte.

Er sah um sich herum, um diesen Anblick mit den anderen Raupen zu teilen, aber niemand bemerkte, was sich gerade ereignet hatte. Sie waren alle damit beschäftigt, die Blätter zu verzehren, sich von den Vögeln zu verstecken und neue grüne Blätter zu suchen. Er hätte "Hallo, schaut doch, ich habe Recht gehabt!" schreien können, aber er wusste, dass niemand es hören würde. Die Tage des sehr angespannten Wartens, die ganze Aufregung sowie die Enttäuschung, die auf die lange Einsamkeit zurückzuführen war, quälten ihn. Er hörte nun einfach auf, sich am Blatt festzuhalten, hob seine Beine nach vorne, streckte sie nach oben, so als ob er um Hilfe bitten würde, und er begann zu fallen, gänzlich gefühllos gegenüber dem, was ihn umgab.

Als er wieder bewußt wurde, verstand er nicht sofort, wo er sich befand. Der Ton eines fröhlichen Gesangs erinnerte ihn an den ersten Sturz, aber dieses Mal war er sehr viel näher, klarer und viel wahrnehmbarer. Die Blätter des Baumes glitten mit hoher Geschwindigkeit vor seine Augen vorüber, aber zu seinem großen Erstaunen, bewegten sie sich von links nach rechts, und nicht von oben nach unten. "Vielleicht, hat mich ein Vogel mitgenommen" dachte er, "aber das stimmt nicht", unterbrach er sich selbst.

Er sah hinter sich und blickte in Augen, die ihm sehr bekannt erschienen. Aber das sind doch die Augen der alten Raupe, die sich in eine Puppe verwandelte. "Ich hatte es Dir versprochen, ich halte mein Wort" sang sie, und lächele. "Warum singst du?" fragte er, und "wo bin ich"? "Ich singe, weil es jetzt meiner Natur entspricht, du bist zwischen meinen Beinen, wir fliegen zusammen".

Avri hatte es schwer, Überblick zu bekommen und die Situation, die sich ihm eröffnete, zu erfassen. Der Schmetterling stieg immer höher und höher, und zum ersten Mal in seinem Leben sah er den Maulbeerbaum von oben. Er sah die ganz grünen und die abgenagten Bereiche, das Zusammenströmen der Raupen, einige in Richtung der Baumkrone, und er sah sogar die benachbarten Bäume. "Wo möchtest Du, dass ich dich ablege?" sang der Schmetterling. "Wer möchte abgelegt werden" antwortete ihm Avri, indem er die Melodie des Schmetterlings wieder aufnahm.

Sogar, als sie auf einen, der am meisten bevölkerten Zweige herabflogen, bemerkte sie niemand. Ein alter Schmetterling hatte sich in der Nähe von ihnen niedergelassen, um Eier zu legen.

"So passiert es also?" fragte Avri.

Der Schmetterling sah ihn lächelnd an, sein Gesicht strahlte vor Glück: "Was habe ich nur für ein großes Glück, mit einer Raupe zu sprechen!".

"Wie meinst Du das ?" entgegnete Avri.

"Ich habe noch nie mit Raupen gesprochen" antwortete er ihm, "das heißt, seit dem Zeitpunkt, wo ich aufgehört habe, selbst eine Raupe zu sein".

"Weswegen tragt ihr nicht alle Raupen über dem Baum?" sprach Avri sehr interessiert.

"Es gibt nichts, was wir uns mehr wünschen würden, aber wir können es nicht tun".

"Aber wie konntet ihr es denn für mich machen?" erwiderte Avri, ohne Ruhe zu geben.

"Weil Du es wolltest." sagte er ihm "Du hast Deine Beine hochgehoben und nach oben gestreckt, weil es genau das war, was du wirklich wolltest, und nichts anderes. Deshalb konnte ich dich an den angehobenen Beinen nehmen, erinnerst Du Dich daran?" fügte die ehemalige alte Raupe hinzu, und machte einen Flügelschlag.

Seit diesem schicksalhaftenTag flog Avri lange lange Zeit mit den Schmetterlingen umher. Nach und nach lernte er mehrere ihrer Melodien, und er machte sich zahlreichen Freunde unter ihnen. Von jedem lernte er etwas Neues aus der Welt der Schmetterlinge, und er genoss dabei ein unermessliches Vergnügen.

Sogar, als er wieder begann Blätter zu nagen, fand er an ihnen einen Geschmack, den er bis dahin nie kannte. Er gab ihm den Namen "Krönender Geschmack" oder "Sinn des Lebens". Jetzt, zum ersten Mal in seinem Leben, sah er in dem eintönigen Abnagen der Blätter einen Sinn. Er wusste, dass er, wenn er viel äße, viel Kraft für eine lange Zeit des Fliegens hätte, und so den Schmetterlingen, die mit ihm im himmlischen Gewölbe spazierten, ein riesiges Vergnügen bereiten würde. Er genoss das Vergnügen, das er ihnen bereitete, und sein Glück hatte keine Grenzen mehr.

Allerdings began er mit der Zeit, sich immer mehr für seine Brüder die Raupen zu beunruhigen. "Wenn sie nur wüssten, was ihnen entgeht" dachte er bei sich, indem er den Kopf hochhob und nach den Flügeln der Schmetterlinge ausschau hielt. "Würden sie nur zu knabbern aufhören, um die unaufhörlichen Gesänge zu hören, sie würden ihre Beine nach oben ausstrecken, fest davon überzeugt, nicht fallen zu können. Denn mit Sicherheit würde ein Schmetterling sie auffangen, bevor sie auf den Boden fielen". Er fühlte, dass seine Einsamkeit unter den Artgenossen mit dem Glück und der Freude wuchs, die ihm die Welt der Schmetterlinge verschaffte.

"Ich bin sicher, dass man es Ihnen erklären kann" dachte er aus tiefstem Seelengrund, und er beschloss, sich einem neuen Unternehmen hinzugeben: den Raupen die Welt der Schmetterlinge zu erklären. "Vielleicht bin ich eine besondere Raupe, aber ich bin sicher, dass es noch mehr von meiner Sorte gibt, Suchende, die nicht wissen, was sie wollen, fehlgeleitet wie ein Blinder im Nebel. Ich werde ihnen den Weg zeigen. Beleidigen wird es niemanden, aber wenigstens habe ich versucht, jenen zu helfen, die Hilfe suchen."

Die Zeit war nun auch für Avri gekommen, sich in eine Puppe zu verwandeln, in aller Stille, und in dem Bewusstsein, dass er das Ziel seines Lebens als Raupe verwirklicht hatte. Als sein Erbe hinterließ er präzise Karten von der Struktur des Baumes und des Waldes, Pläne über die kürzesten Wege zur Baumkrone, eine detaillierte Anatomie des Aufbaus der Schmetterlinge, sowie den Ablauf des Eierlegens und des Schlüpfens und sogar Karten, der besonders zum Verzehr empfohlenen und geschützten Bereiche.

Er wusste, dass eine Raupe, wenn sie mit einem mächtigen Verlangen zu fliegen geboren würde, die von ihm hinterlassenen Informationen gut nutzen könnte, selbst dann, wenn die Mehrzahl der Raupen die Karten nur gebrauchen würden, um die grünsten und besten Blattzonen schneller zu finden.

Eine geringe Anzahl der Raupen ging mit Hilfe der Anleitungen auf die Suche nach der Baumkrone. Noch weniger von ihnen versuchten mit seinen Arbeiten die Struktur des Eies und der Puppe zu untersuchen, und nur vereinzelte seltene Unikate stellen sich die Frage: "Woher kommen seine so einfachen Lösungen für solch komplexe Probleme? Woher hatte er den Sinn für diese herrlichen Gesänge erhalten, die er komponierte? Wie können auch wir aus der Quelle dieser Erkentnisse schöpfen und teilhaben?"

Avri war der Erste der fliegenden Raupen seiner Dynastie. Viele, die nach ihm zur Welt kamen, sind einen ähnlichen Weg gegangen, und jeder hat zu den Kenntnissen seiner Vorgänger etwas hinzugefügt. Sie haben die Welt der Schmetterlinge für jene beschrieben, die nach ihnen kommen würden. Sie wussten bereits, dass die Schmetterlinge die Raupen mehr lieben, als diese es sich jemals vorstellen können.

Sie wussten ebenso, dass der Tag kommen würde, an dem alle Raupen in die Lüfte fliegen würden, und die Schmetterlinge ihnen dabei helfen werden. Dann wäre der Höhepunkt der Vollendung und der Freude in der Welt der Schmetterlinge und in der Welt der Raupen erreicht. Auf diesen Tag warteten sie, und versuchten durch all ihre Möglichkeiten, ihn näher zu bringen.

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Ein Weg entsteht, indem man ihn geht. (Chuang-tzu)

Thomas Offline

mishtatef


Beiträge: 297

30.07.2006 11:24
#2 RE: Chassidische und Kabbalistische Märchen und Geschichten Antworten

Eine Chassisdische Geschichte

"Ein Duett"


Der Rebbe aus Rybrinica war in jeder Hinsicht ein skurriler Mann. Wenn die Menschen weinten, lachte er, wenn sie lachten, weinte er. Auf eine Frage gab er zwei Antworten, oder stellte im Gegenzug zwei neue Fragen. Tatsächlich, der Umgang mit ihm erforderte Geduld und Langmut. Der Rabbiner Dr. Berliner war jemand mit diesen besonderen Eigenschaften. Daher wurde es bei seinen Schülern zur Gewohnheit, die Fragen an den Rebbe aus Rybrinica über Dr. Berliner zu übermitteln, denn skurril oder nicht – man musste dessen Begabung, die Tiefen der Thora auszuloten, anerkennen.

Eines Tages wandte sich ein junger Mann an Dr. Berliner, den Rebbe aus Rybrinica wegen einer schwierigen Stelle zu befragen.

Dr. Berliner traf den Rebbe in dessen Zimmerchen, das er sich bei einer Witwe zur Untermiete nahm. Wie gewöhnlich saß der Rebbe an seinem kleinen Tischchen und lernte. Der altersschwache Stuhl krächzte unter den rhythmischen Bewegungen des Rebbe Oberkörpers. Der Raum war vom eigentümlichen Singsang erfüllt.

Dr. Berliner setzte sich leise auf den zweiten Stuhl im Zimmer (es gab nur zwei) und wartete.

Plötzlich sprang der Rebbe hoch, der Stuhl sprang mit ihm und fiel rückwärts. „Hallelu et Adonai kol haGojim!“ (Lobet den Ewigen alle Völker) sang er aus ganzer Kehle und vollführte einen Kasachok, einen Kosakentanz. Die Beine flogen in alle Richtungen, die Hände klatschten auf die Absätze der abgewetzten Schuhe und auf die Oberschenkel, auf eine wundersame Art und Weise blieb aber des Rebbe Hut auf dessen Kopf kleben.

Unwillkürlich lachte Dr. Berliner und klatschte mit in die Hände, auch seine Beine entwickelten ein Eigenleben und wetzen über die Holzdielen. „Wer kann schon diesem Mann widerstehen?“ dachte Dr. Berliner, und gab sich der Freude hin.

Genauso plötzlich wie er anfing, hörte der Rebbe auf zu tanzen, wurde ernst, stellte den Stuhl auf, setzte sich unmittelbar vor Dr. Berliner hin und fixierte dessen Augen aus etwa zwanzig Zentimeter Entfernung.

„Sag’ dem Jungen, die Thora ist nicht dazu da, die eigene Intilegenzia zu bewundern!“

Dr. Berliner war nicht besonders überrascht, dass der Rebbe den Grund seines Besuchs erkannte.

„Gut, sage ich ihm“, entgegnete Dr. Berliner und blickte besorgt. „Da wäre noch etwas“, fügte er nach einer kurzen Weile hinzu. „Dieser Junge, Menachem, ist der Sohn meines Schwagers, des Ger Zedek Reb Ezra ben Abraham. Er ist auf meinem Schoß aufgewachsen. Menachem ist ein Talmid Chacham. Schon seit er sieben war, lernte er Talmud bei den Erwachsenen. Nun plagen ihn Zweifel. Hilf mir, lieber Freund, was soll ich tun? Wie kann ich ihm helfen?“

„Sein Problem ist gerade seine Begabung, sein scharfer Verstand“ fing der Rebbe an. „Wir kennen beide die Problematik der Gaonim (Genies) – der Genuss am Denkvorgang ist auch eine Versuchung.“ Der Rebbe dachte einige Minuten intensiv nach. „Sag’ ihm folgendes: Das Grübeln darüber, wieso ein Mensch unglücklich bleibt, obwohl er alle Gebote erfüllt, ist der Versuch aus eigener Kraft die Welt zu retten. Das Bemühen, die Gebote mit immer größerer Anstrengung und Kawana (Konzentration) zu tun, mündet schließlich immer in Verzweiflung.“

„Aber sollen wir nicht den Ewigen, g.s.E., mit aller Kraft lieben?“

„Ja, sicher: Mit aller Kraft, also auch mit der Kraftlosigkeit. Erst damit geben wir dem Heiligen, gelobt sei Sein Name, die ganze Ehre.“

Da erstrahlte das Gesicht von Dr. Berliner. Er küsste den Rebbe auf beide Backen und nach chassidischer Sitte auch auf die Lippen und beide beendeten den Abend mit Tanz und Gesang.
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Thomas Offline

mishtatef


Beiträge: 297

30.07.2006 11:25
#3 RE: Chassidische und Kabbalistische Märchen und Geschichten Antworten

Fortsetzung folgt
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kaeru Offline

Wenigschreiber

Beiträge: 90

30.07.2006 13:49
#4 RE: Chassidische und Kabbalistische Märchen und Geschichten Antworten

Danke dir, lieber Bruder, für die 2 wunderbaren Geschichten
kaeru

Thomas Offline

mishtatef


Beiträge: 297

01.08.2006 07:40
#5 RE: Chassidische und Kabbalistische Märchen und Geschichten Antworten

Danke dir Kaeru

EIN PRAGER JÜNGLING UNTER CHASSIDIM

Ungangbar ist der Weg in das Reich der Chassidim. Der Reisende, der unerfahren und ungenügend ausgerüstet, sich durch das Dickicht des Urwaldes durcharbeiten möchte, ist nicht kühner als jemand, der sich vornimmt, in die chassidische Welt einzudringen, die nicht leicht erschaubar, ja durch ihre Wunderlichkeiten abstoßend ist. Nur wenige, die aus dem Westen stammen, sind diesen Weg gegangen. Kaum so viel - wenn ich darüber nachdenke - wie ich Finger an der Hand habe, die diese Zeilen schreibt.

Ein neunzehnjähriger Bursch, nicht anders erzogen wie die ganze damalige (jüdische) Jugend in der verblassenden Tradition der Vorkriegsgeneration, verlässt 1913 Prag, von einer geheimen Sehnsucht getrieben, die er sich auch heute noch nicht, nach Verlauf so vieler Jahre zu erklären vermag, und fährt an einem Sommertag nach dem Osten, in die Fremde.

Ahnt er, was er mit diesem Tag verloren hat?
Die europäische Zivilisation, ihre Bequemlichkeit und Errungenschaft, ein Leben der Erfolge, die man Karriere nennt! Ahnt er, dass seine Seele nie mehr fähig sein wird, Verse vollständig zu genießen, die er bis zu dieser Zeit so gern zu lesen pflegte, dass die Rhythmen chassidischer Lieder, von dem Augenblick an, da er sie zum ersten Mal hören wird, den Zauber jeder anderen Musik übertönen werden, und dass alles Schöne, das sein Auge bisher wahrgenommen hat, fortan halb verhüllt sein wird vom mystischen Schleier des Wissens um das Gute und Böse?

Kaum ahnt er, dass in dem Augenblick, da er das Ziel erreicht zu haben wähnt, für ihn das am schwersten gangbare Stück seiner Wanderschaft erst beginnt. Denn das Tor ins Reich der Chassidim öffnet sich vor niemandem mit einem Male. Es ist mit einer langen Kette körperlicher und seelischer Entbehrungen verschlossen. Aber wer einmal in dieses Reich geschaut hat, wird nie die Schätze vergessen, die er dort wahrgenommen hat. Verborgen den Blicken der Welt sind die Herrscher dieses Reiches. Ihre Wundertaten und allmächtigen Worte sind nur etwas Untergeordnetes; nur der Saum des Schleiers, worin sich ihre Wesenheit verhüllt, während ihr Antlitz irgendwohin nach dem fernen Schweigen des Absoluten von uns abgewendet ist. Bloß ein schwacher Abglanz ihrer Seele fällt auf unsere allzu materiellen Schatten. Aber noch heute, nach Jahren, entfalten sich für mich fortwährend alle jene Gestalten. Nicht bloß die, die ich persönlich kennen lernte, sondern auch die, von denen ich so viel hörte und in alten hebräischen Büchern las, leben vor mir in ihrer ganzen Größe und Kraft auf. Ich fühle mich überwältigt. Etwas zwingt mich, zur Feder zu greifen und getreu alles aufzuschreiben, so gut ich es nur kann.

Es ist Freitagnachmittag. Das Städtchen Bels, das jüdische Rom, rüstet sich zum Empfang des Sabbaths.

Die kleinen Städte Ostgaliziens weisen alle seit Jahrhunderten den gleichen Charakter auf. Not und Schmutz sind ihre bezeichnendsten Eigenschaften. Ärmlich gekleidete ukrainische Bauern und Bäuerinnen, Juden mit Schläfenlocken, in zerschlitzten Kaftans, Haufen von Rindern und Pferden, Gänsen und großen Schweinen, die ungestört auf dem Stadtplatz weiden. Bels unterscheidet sich von anderen Orten lediglich durch seine berühmte Synagoge, sein nicht minder berühmtes Lehrhaus und das große Haus des Belser Rabbi. Diese drei Gebäude schließen den Stadtplatz von drei Seiten ab. Es sind das ganz einfache Gebäude. Aber in dieser ärmlichen, verfallenen Gegend der Welt sind sie wirkliche Denkmäler. Bels hat etwas über dreitausend Einwohner. Die Hälfte von ihnen sind Juden. Ein langer Sommernachmittag. Noch sechs oder sieben Stunden vor der Dämmerung, da der Sabbath beginnt und die strengen religiösen Vorschriften verbieten, auch die leichteste Arbeit zu verrichten. Und doch sind jetzt schon die Geschäfte geschlossen. Die Schneider legen ihre Nadeln weg und die Taglöhner - auch sie, wie alle anderen, mit Schläfenlocken - ihre Hacken und Spaten. In den Häuschen beendet die Hausfrau die Vorbereitungen für den Feiertag. Die Männer eilen ins Bad. Nach dem Dampfbad tauchen wir - immer mehrere gleichzeitig - in ein kleines schlammiges Bassin, das eigentliche rituelle Bad, die »Mikwe«. Wie zum Spott jeglicher Hygiene »reinigen« sich dort hunderte von Leibern vom Geist des Alltags. Das Wasser, wie überhaupt alles Wasser in Bels, riecht nach Schwefel und Petroleum.

Wiewohl heute an allen Ecken und Enden so viel Eile ist, weiß bereits die ganze Gemeinde, dass ein junger Mann nach Bels gekommen ist, von weither, von Prag. Hunderte von Fragen bestürmen mich von allen Seiten. Ich stehe verlegen da, weil ich kein Wort verstehe. Niemals habe ich bisher »Jiddisch« sprechen hören, dieses seltsame Gemenge eines mittelalterlichen Deutsch mit Hebräisch, Polnisch, Russisch. Erst später habe ich es allmählich erlernt.

Im Haus des Rabbi leuchten schon die Sabbathkerzen. Ich komme mit anderen Gästen - es sind deren eine große Reihe -, um den heiligen Mann zum ersten Mal zu begrüßen. Es war ihm berichtet worden, ich sei jener Prager junge Mann und man erzählte ihm sogar das große Wunder, dass ich eigenhändig die Schaufäden an den vier Enden des skapulierartigen Leibchens nach der komplizierten Vorschrift zu binden verstanden habe. Für dieses Können ruft er mich noch einmal zu sich. Nochmals, diesmal lange, drückt er mir die Hand und blickt liebevoll auf mich. Er sieht nur mit einem Auge. Das andere ist blind. Es ist mir, als käme aus seinem sehenden Auge ein langer Lichtstrahl, der mein Innerstes durchdringt.

Der Rabbi ist ein stattlicher, hochgewachsener, breitschultriger Greis von ungewöhnlich patriarchalischem Aussehen. Er trägt einen tadellosen seidenen Kaftan; auf dem Haupt, wie alle anderen Männer, ein »Schtraml«, das sabbathliche Barett, von dem ringsum dreizehn kurze, dunkelbraune Zobelschwänze herunterhängen. (Werktags trägt er die hohe schwere Pelzmütze des Rabbiners, ähnlich einer Grenadiermütze.)

Auf solche Weise begrüßte den jungen Prager Mann der Rabbi Jisachar Bär Rokach - Ehre seinem Andenken! Er war ein direkter Enkel des heiligen Rabbi Schalom und vielleicht der Letzte, der sich an ihn persönlich erinnerte. Er redet mich mit freundlicher Stimme an. Ich verstehe, dass er mich über Prag ausfragt. Vor vielen Jahren war er mit seinem Vater dort gewesen, um in der Alt-Neusynagoge zu beten und das Grab seines berühmten Vorfahren, des hohen Rabbi Löw, zu besuchen.

Die Belser Synagoge hat sich mittlerweile gefüllt. Hunderte von Kerzen brennen. Das Innere erinnert mich irgendwie an die Prager Alt-Neusynagoge. Männer, zumeist hohe, gut gewachsene Gestalten, alte und junge, warten in stillen Gesprächen auf die Ankunft des Rabbi. Zum Unterschied vom Werktag sind alle sauber gekleidet. Ihre feiertäglichen, schwarzseidenen Kaftane reichen bis zum Boden. Die älteren tragen das »Schtraml«. Ein scharfer Geruch von Tabak geht von ihnen aus, den sie in Dosen bei sich tragen. Einige dieser Männer sind aus Ungarn hergekommen, andere von noch viel weiter - aus Russland. Wegen der schlechten Wege pilgerten sie ganze Wochen, ehe sie Bels erreichten, um hier vielleicht nur einen Tag zu verbringen. Übermorgen, am Sonntag, begeben sie sich auf ihren mühsamen Rückweg. Zum nächsten Sabbath werden wieder andere hierher kommen. Die Dämmerung ist längst hereingebrochen, als der Rabbi in das Bethaus eintritt. Rasch teilt sich die Menge, um ihm den Weg freizugeben. So dürften sich vormals die Wasser des Roten Meeres vor Moses geteilt haben.

Mit raschen, langen Schritten geht der Rabbi direkt auf den Altar zu und der merkwürdige chassidische Gottesdienst beginnt. »Danket Gott, denn er ist gütig, ewig währt seine Gnade!«
Es sind die Worte des 107. Psalms, mit dem die Chassidim an jedem Freitag die Ankunft des Schabaths begrüßen. So hat es der heilige Baal Schem bestimmt, als er auf einer missglückten Wallfahrt nach dem Heiligen Land aus der Hand von Seeräubern befreit worden war.
Die Anwesenden sind plötzlich wie elektrisiert. Die bis dahin ganz ruhige, geradezu beklommen harrende Menge bricht in einen wilden Aufschrei aus. Niemand bleibt an seinem Platz. Die hohen dunklen Gestalten durchmessen den Betraum und schwanken im Licht der Schabathkerzen hin und her. Mit lauter Stimme rufen sie die Psalmworte aus, gestikulieren wild und bewegen sich mit dem ganzen Körper. Sie achten nicht darauf, ob sie an den Nachbar stoßen, kümmern sich überhaupt um nichts, alles hört für sie auf zu existieren. Eine unbeschreibbare Verzückung hat sie ergriffen.

Träume ich? - Niemals habe ich Ähnliches erlebt. Oder doch wohl? ... Bin ich vielleicht schon einmal hier gewesen? . . . Alles ist so eigenartig, so unfassbar!
». . . der sie aus der Hand des Bedrängers befreit hat. Und aus den Ländern sie gesammelt hat, von Osten und Westen, von Süden und vom Meer.«
Die Stimme des Alten vor dem Altar dringt über alle anderen hervor - in großer freudiger Demut und zugleich in einer grenzenlosen traurigen Sehnsucht, als verschmelze er mit dem Unendlichen; als würde ein Königssohn, nachdem er sechs Tage eingesperrt gewesen war, nun wieder vor das Antlitz seines königlichen Vaters treten. Er ist voller Buße und schluchzt ob unserer Sünden.
»Sie irrten durch die Wüste, auf ungebahnten Wegen; eine bewohnte Stadt fanden sie nicht; hungrig und durstig, die Seele in ihnen verhüllt.«

Das Gebet des heiligen Mannes hat die Macht, in diesem Augenblick die Seelen zu erlösen, die wegen ihrer großen Sünden nach dem Tod keine Ruhe fanden und verurteilt sind, durch die Welt zu irren. Und die »Funken« der heiligen Weisheit Gottes, die in die Leere gefallen waren, als Gott jene geheimnisvollen Welten zerstörte, die vor der Erschaffung unserer Welt bestanden, diese Funken sind jetzt emporgehoben aus dem Abgrund der Materie und ihrem geistigen Urquell zurückgegeben, dem sie einstens entsprungen sind.

»Zu Gott riefen sie in ihrer Bedrängnis und aus ihren Ängsten rettete er sie. Er leitete sie auf geradem Weg in eine bewohnbare Stadt...«

Der Greis vor dem Altar hebt seine Rechte empor, als würde er unsichtbare Ankömmlinge segnen; als strömte von seinen bebenden Fingern ein heilender Balsam.

»... auf Schiffen fuhren sie hinaus ins Meer, ihr Werk zu vollbringen in großen Gewässern ... Er aber sprach und gebot einem Sturmwind, der die Wogen emporhob. Da steigen sie auf bis zum Himmel, stürzen wieder hinab in den Abgrund, und ihre Seele vergeht in Angst; sie taumeln und schwanken wie Trunkene und alle ihre Weisheit ist dahin. Sie rufen zu Gott in ihrer Not und er führt sie aus ihren Bedrängnissen ... Da freuen sie sich, dass es stille geworden ist und er sie zum erwünschten Hafen bringt. Sie preisen Gott für seine Gnade und für seine Wunder an den Menschenkindern . . .«

Die Gestalt des Greises wirft sich hin und her wie in Krämpfen. Jedes Beben seines mächtigen Körpers, jedes Zusammenziehen seiner Muskeln ist durchdrungen vom Preis des Allerhöchsten. Die Handflächen begegnen, einander zuweilen in mystischem Zusammenschlug.
Die Menge der Frommen wogt und strömt, braust und siedet wie ein glühender Lavastrom. Plötzlich, wie auf Befehl, bleiben alle stehen und wenden sich nach dem Westen, nach dem Eingang des Betraumes, das Haupt in Erwartung gesenkt.
In diesem Augenblick tritt unsichtbar die Königin Schabath ein und bringt einem jeden von uns die kostbare himmlische Gabe: noch eine, eine neue feiertägliche Seele.

»Kehre ein in Frieden, Krone des Herrn, in Freude und Jubel, inmitten der Gläubigen des auserkorenen Volkes! Kehre ein, o Braut, kehre ein, o Braut!«

- - - Der Gottesdienst geht zu Ende. Die Entrücktheit ist vorüber, das mystische Traumbild ist vergangen. Wir sind wieder in dieser Welt. Aber diese ganze Welt ist emporgehoben. In den Augen funkeln Witz und Heiterkeit. Es herrscht eine feierliche, sorglose Stimmung - der Friede der Königin Schabath.

Wir gehen in Reihen am heiligen Rabbi vorüber und wünschen ihm einen »guten Schabath«.
Wie hungrig sind wir doch! Das macht die »zweite Sabbathseele« . . . Wir eilen in die Gaststätten, um schnell zu essen und uns noch rechtzeitig beim Tisch des heiligen Rabbi einzufinden. Am tiefen Himmel der ukrainischen Steppe leuchten schon längst die Sterne, groß wie Orangen.

Die Frauen waren nicht im Bethaus. Ihre Pflicht ist es, daheim die heiligen Sabbathkerzen zu entzünden und die Rückkehr der Männer und Söhne zu erwarten. Die Frauen selbst kommen erst am Sabbathvormittag in die Synagoge - auf dem Stadtplatz begegnen wir ganzen Gruppen von ihnen - in althergebrachter Tracht mit vorherrschend grünen, gelben und weißen Farben.
Aber beachten wir sie nicht zu sehr! Sie könnten das übel auslegen ...

-------Wochentags sind wir zumeist im »Beth
hamidrasch«, dem denkwürdigen Lehrhaus von Bels. Allen Wissbegierigen steht es Tag und Nacht offen. Längs der Wände sind vom Fußboden bis zur Decke hohe Gestelle angebracht, angefüllt mit Büchern. Auch auf den Tischen liegen Haufen von Folianten. Jeder darf sich einen beliebigen Band ausborgen, um darin zu lernen. Es sind freilich nur heilige, theologische Bücher in hebräischer Sprache. Andere würde ein Frommer nicht anrühren. Schon die Kenntnis eines lateinischen oder russischen Buchstaben ist ein unaustilgbarer Fleck auf der Seele. Von morgens bis abends sitze ich bei den Büchern und lerne. Nur zum Abendgebet und zum Essen eile ich für Augenblicke fort. Aber auch die Nächte sind nicht zum Ausruhen geschaffen, sondern - wie der Talmud sagt - zum Forschen in Gottes Gesetz. Die bösen Insekten mahnen mich auch gründlich daran, sobald ich mich hinlege. Ein Insekt erschlagen darf ich nicht; ich weiß bereits, dass das eine Sünde wäre. Ich ziehe es darum vor, auch nachts ins Lehrhaus zu gehen. Ich lerne selbst, oder ich höre zu, wie ein anderer in einem andern Winkel lernt und dabei das Studium mit einem langgezogenen melancholischen Singsang begleitet. Der Synagogendiener hat uns Kerzen verteilt. Wir halten die erhitzten in der Hand, um beim Studium nicht einzuschlafen.
Eines Nachmittags nehme ich ein rituelles Tauchbad wie vor einem Gebet. Denn am gleichen Tag soll ich beim heiligen Rabbi mit meinem »Quittel« erscheinen. Quittel ist ein kleines
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Stück Papier, auf das einer der Sekretäre des Rabbi den Namen des Bittstellers und den seiner Mutter - nicht den des Vaters! - aufgeschrieben hat, ferner den Ort der Herkunft und ganz kurz, worum der Bittsteller Gott bittet. Die Chassidim übermitteln also dem heiligen Rabbi ihre Wünsche nicht mündlich, sondern schriftlich. Auf meinem Quittel steht in hebräischer Sprache: ,Mordochai, Sohn der Rikel, aus Prag, Ausdauer im Studium und Gottesfurcht'. Kein Wort mehr. So rieten mir die Chassidim. Im Vorzimmer und in der Stube des Rabbi drängen sich bereits - in Bels ist immerwährend ein Gedränge - einige Tausend Bittsteller, hauptsächlich Frauen. Die einen kommen, dass der heilige Rabbi zugunsten ihrer geschäftlichen und wirtschaftlichen Angelegenheiten bei Gott Fürsprache einlege; andere, dass ein Kranker genese, wieder andere wenden sich an ihn um einen Rat, etwa, ob eine Heirat geschlossen werden solle oder nicht. Nachdem der Rabbi einige Bitten durchgelesen hat, fragt er nach Einzelheiten, bevor er sein Gebet erhebt oder einen Rat erteilt. Manche Bitten liest er mit deutlichem Unwillen; vor allem Bitten um Genesung. Hier schilt er und verweist den Bittsteller an den Arzt. Aber er spricht einen Wunsch nach
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Genesung aus. Jemand bringt eine Münze, die der heilige Mann mit geheimer Kraft erfüllen soll. Die Münze gilt später als Amulett. Der Rabbi legt die Münze auf den Tisch und zieht um sie Kreise. Er macht das besonders ungern. Der Bittsteller freilich nimmt freudestrahlend das Geldstück zurück, das durch die Hand des Rabbi geheiligt worden ist. Zugleich mit dem Quittel legt man eine kleinere Geldmünze als Spende auf den Tisch, jeder seinem Vermögensstand entsprechend. Der heilige Mann hat die Pflicht, die Gabe anzunehmen. Es ist dies eine Einrichtung des heiligen Baal Sehern und hat einen metaphysischen Hintergrund. Wenn nämlich der heilige Rabbi für uns Unwürdige bei Gott Fürsprache einlegt, fragt ihn dieser: »Und was ist dir an dem Sünder gelegen? Hast du vielleicht ihm gegenüber irgendwelche Verpflichtung, mein liebster Sohn?« Da kann der heilige Rabbi Gott antworten: »So ist es. Dieser Mensch unterstützte mich und meine Familie.« So ist denn unsere Geldspende das einzige - armselige - Bindemittel zwischen uns und dem heiligen Mann, und es ist die notwendige Voraussetzung dafür, dass unsere Gebete erhört werden. Darum nimmt der heilige Rabbi Spenden an. Armen gibt er sie sogleich zurück.
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Von Leuten, die als Ungläubige bekannt sind, nimmt er überhaupt keine Geschenke entgegen. Fromme, die außerhalb von Bels wohnen, pflegen der Kanzlei des Rabbi die Geschenke durch die Post zu schicken. In dringenden Fällen weisen sie Geld telegraphisch an. In dem Augenblick, da der Beamte das Telegramm abklopft, wird dem Bittsteller schon geholfen, wiewohl der Rabbi die Spende noch nicht erhalten hat. Die in Bels aus Ungarn Angekommenen küssen dem heiligen Mann die Hand. Die Juden aus Polen tun das nicht. Ich bin der letzte in der Reihe. Der heilige Rabbi liest mein Quittel mit aufrichtiger Freude. Als ich seine Stube verlasse, erwarten mich schon draußen Chassidim und beglückwünschen mich: »Mögest du Gutes ausgerichtet haben!«
Wenn Vollmond ist, heilt der heilige Rabbi seelisch Kranke. Sie stehen, eine traurige Reihe, in der Stube des Rabbi, der mittlerweile beim Schein großer Kerzen in den Talmud vertieft ist. Ich kannte ein Mädchen, das auf diese Weise von krankhafter Schwermut geheilt worden ist.
Frauen sieht der heilige Mann niemals ins Gesicht. Ist er gezwungen, mit Frauen zu sprechen -z. B. bei Annahme der Quittel -, schaut er, während er spricht, zum Fenster hinaus. Nicht einmal
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seine eigene Frau, die etwas korpulent, aber immer noch schön ist, schaut er an.
Durch das Fenster des Vorzimmers zur Stube des Rabbi sieht man tief in die ukrainische Steppe. Weit und breit ist kein Bäumchen, kein Hügel zu sehen. Nichts als eine unüberschaubare Ebene. Über einen Sumpf führt ein schmaler Steg aus Brettern. In der Ferne reicht er bis zu einem armseligen, kleinen Feld und eilt weiter durch den Morast irgendwohin ins Unbekannte. Über diesen Steg gehe ich, wenn mich der Aufenthalt im Lehrhaus ermüdet hat, und lege mich am Rain jenes Feldes hin. Das einzige Stück Natur, meine einzige Erholung in dieser Wüste!
Ich kann nicht weiter. Dieses aller Welt entfremdete Leben wird mir unerträglich. Ich fühle einen Widerstand gegen ein solches Puritaner-tum, gegen diese Unwissenheit, Verwahrlosung und Unsauberkeit. Ich entfliehe, reise nach Prag zurück, zu den Eltern. Aber nicht für lange Zeit. Wieder zieht es mich zu meinen Chassidim.
Eines Nachts kann ich nicht einschlafen. Ich liege mit dem Gesicht zur Küchentür, d. h. nach Osten gewendet. Die Tür ließ ich ein wenig geöffnet. In der Küche hatte ich vorher irgendein heiliges hebräisches Buch gelesen. Die Fenster
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der Küche sind geöffnet, nach Osten hin, in der Richtung, in der nach einer Zugreise von etwas mehr als einer Nacht und einem Tag Bels liegt. .. Vergeblich mache ich die Augen klein, um den Schlaf herbeizurufen. - Plötzlich bin ich vom Glanz eines starken Lichtes geblendet, das von irgendwoher durch die kaum geöffnete Tür bis in mein finsteres Schlafzimmer das Dunkel durchdringt. Was ist das? - Ich weiß doch genau, dass ich die Lampe ausgelöscht habe und dass in der Küche niemand ist. Ich reiße die Augen auf. Inmitten des Glanzes sehe ich durch die ein wenig geöffnete Tür ganz deutlich und klar, als ob er nur ein paar Schritte weit von mir wäre - den heiligen Rabbi von Bels!» Er sitzt in seiner Belser Stube und blickt mich unverwandt an. Auf dem ausdrucksvollen Antlitz leuchtet sein kaum merkliches erhabenes Lächeln göttlicher Weisheit. Ich weiß nicht, wie lange die Erscheinung dauerte. Aber genug daran, dass ich von ihr erschüttert war. Ich reise also wiederum hin, diesmal bereits fest entschlossen. Ich bin nicht mehr so allein wie auf der ersten Reise. Diesmal begleitet mich ein Kamerad, ein Prager Kind wie ich, der sich gleichfalls für den Chassidismus entschieden hat. Jenes nächtliche Erblicken des Belser Rabbi

war eine große Gnade. Erst später erfuhr ich es, als ich einmal den Chassidim davon erzählte. Dass man den noch lebenden heiligen Mann so von fern und noch dazu im Wachen erblickt, ist zwar bei den Chassidim keine so ganz vereinzelte Erscheinung, ist aber die Kundgebung einer größeren liebe Gottes als beispielsweise das Gespräch mit einem Verstorbenen oder sogar mit dem Propheten Elias.
Wir, »die es wirklich so meinen«, nehmen die Mahlzeiten nicht im Gasthaus ein, wie es diejenigen tun, die zum Belser Rabbi bloß »hergereist« sind. Wir gehören zur besonderen Gemeinschaft der »Chewra«, deren Mitglieder »Joschwim« genannt werden, d. h. die Sesshaften, weil sie in Bels ständig wohnen. Unsere Gemeinschaft lebt von kleinen Beiträgen, die man bei den wohlhabenderen Besuchern von Bels mit Mühe aufbringt. Wir kochen für uns selbst. Der Speiseraum ist klein. Im schmutzigen Fußboden klaffen aus den ungehobelten Brettern tiefe Löcher. Wir drängen uns um den Tisch auf schmaler Bank, einer neben dem anderen. Geschirr gibt es wenig. Wir Jungen essen zumeist zwei aus einer Schüssel, freilich mit bloßen Händen. Gabeln zu benutzen, wäre eine ausschweifende Neuerungs-
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sucht. Das Menü ist nicht allzu reichhaltig. Wir bekommen zum Mittagessen eine Schnitte schweren Kornbrots, eine Schüssel Nudel- oder Kartoffelsuppe, die wir allerdings mit Löffeln essen, und ein ganz kleines Stück Rindfleisch, wozu die großen Saubohnen als Beilage niemals fehlen dürfen. Die älteren Leute teilen sich in einen Schluck Wodka, den sie alle aus einer Flasche trinken (wiewohl der Talmud, richtiger gesagt, der Schulchan Aruch aus hygienischen Gründen verbietet, dass zwei Personen aus einem Gefäß trinken). Oft pflegen wir das berühmte Belser Mus zu haben, das aus dem wohlriechenden, braunen Buchweizen besteht. Zuweilen haben wir Fische, kleine Weißlinge, voll tückischer Gräten. Dann muss ich, wenn die Reihe an mir ist, beim Abschaben der Fische in der Küche helfen. Am Sabbath ist die Enge noch größer. Da essen wir nicht in unserer Mensa, sondern am Tisch des Rabbi. Wir reißen uns rücksichtslos darum, direkt aus seiner Hand wenigstens ein kleines Stückchen einer Speise zu bekommen, die er berührt und von der er gekostet hat. In jedem Krümchen seiner süßen Mehlspeise, der warmen »Kugel«, in jeder Handvoll seines fetten »Scholet«, in jedem Tropfen seines hausgemachten Rosinenweins ist

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das ganze Paradies mit allen himmlischen Wonnen eingeschlossen. Wer darum die vom heiligen Mann geheiligte Speise in sich aufnimmt, gewinnt sicherlich die irdische und ewige Seligkeit. Bei Tisch singen die Chassidim Sabbathlieder, durch die Bels berühmt ist, jene Lieder, deren abwechselnder Rhythmus ein Tanz der Freude und der Trauer, der Ratlosigkeit und Sehnsucht ist. Vor dem Tischgebet deutet der Rabbi das Wort Gottes. Aus jeder neuen Wahrheit, die der heilige Mann aus den Tiefen des Gesetzes emporhebt, erschafft Gott neue Himmel. Die Deutung des Rabbi ist zugleich Predigt. Ich höre seine leise mystische Stimme. Worte unterscheide ich nicht.
An den Feiertagen wird getanzt. Hunderte von Männern fassen einander an der Hand oder es legt einer den Arm um den Nacken des anderen. So bilden sie ein großes Rund, das sich in schaukelndem Tanzschritt bewegt. Zuerst langsam, dann immer schneller und schneller. Der Tanz beginnt im Lehrhaus, aber bald zieht die ganze Gruppe auf den Stadtplatz und tanzt vor den Fenstern des Rabbi. Der Tanz dauert ununterbrochen etwa eine Stunde und noch mehr, bis zur Erschöpfung der Tanzenden im Rausch der ständigen Wiederholung der immer einen, mys-
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tisch gefärbten Tanzmelodie. So tanzen die Sphären der überirdischen Welten ewig um den gefeierten Thron des Herrn. Wir Jungen dürfen uns an dem heiligen Tanz der Chassidim nicht beteiligen. Wir schauen zu, singen mit und schlagen den Takt mit den Händen. Der Rabbi tanzt nur ein wenig beim Vormittagsgottesdienst der Herbstfeiertage. Er tanzt allein. In der Hand trägt er dabei einen Palmzweig oder die Thorarolle. Der Anblik seines mystischen Tanzes erfüllt uns mit religiöser Ehrfurcht.
Überhaupt vermeiden wir es, dem heiligen Rabbi beim Gottesdienst zu nah vors Gesicht zu treten. Sobald er ins Lehrhaus tritt, reißen wir uns in ein verwickeltes Knäuel zusammen, um ihm möglichst viel Raum freizugeben. Kein wahrer Chassid wird sich ihm während des Gebetes oder auch vorher innerhalb einer Entfernung von »vier Ellen« nähern. Und wenn wir nicht vorsichtig und gewandt genug sind, bekommen wir ordentliche Schelte von ihm. Da ist er in seinen Worten nicht wählerisch. Er schreit uns etwa an: »Ihr Viecher«, ja sogar »Ihr Mörder«! . . . Manchmal zieht er im Nu seinen Hosengürtel aus und gibt damit einem unvorsichtig Zudringlichen Schläge. Aber seltsam, es schmerzt nicht im geringsten!
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Genau so wie auch seine Worte nicht wehe tun. Im Stillen lachen wir vor Freude, wenn er uns mit ihnen bedenkt. Wir wissen, dass es nicht Schmähungen sind. Es sind höchste Auszeichnungen, geheime Segnungen. Absichtlich kleidet er sie in ein so grobes Gewand des Wortes und der Stimme. Und zwar darum, dass der Teufel sie nicht erkenne und dass er sie zum Thron des Höchsten aufsteigen lasse. Trotzdem halten wir vorsichtig Abstand vom heiligen Rabbi und je weiter wir von ihm stehen, desto besser ist es. Warum? - Warum achten wir so sehr darauf, ihm nicht allzu nahe zu kommen? Und warum warnt er uns davor mit so harten Ausdrücken? Weiß er doch sehr wohl, dass wir uns in seiner Gegenwart voll Anstand benehmen und ihn nicht mit einer Silbe stören wollen, dass wir nicht einmal flüstern, sondern nur fromm mit ihm beten und immer nur beten wollen. Weil ihn keineswegs unsere Worte stören würden, sondern unsere Gedanken, alle unsere törichten, oft gar nicht geäußerten Gedanken - und was schwirrt da nicht alles durch unsern Schädel! - und alle, auch die frömmsten Gedanken, sind so materiell, dass wir durch ihre Eitelkeit die Reinheit der mystischen Konzentration des heiligen Rabbi trüben, der
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Helle seiner heiligen Gedanken Abbruch tun, ihrer, deren geringster ein lebendiger glänzender Engel ist. Manche Chassidim verstecken sich züchtig hinter dem Rücken derer, die zufallig vor dem Rabbi stehen. Das ist freilich töricht. Der heilige Rabbi weiß von jedem, auch von dem, der sich versteckt, und von dem, der fern ist.
Die Wochentage fließen einförmig dahin. Ich lerne im Talmud. Schon früher liebte ich die unendlichen Unterredungen der alten Rabbinen Mesopotamiens über allerlei rituale und juristische Themen, ihre Legenden, Morallehren, Aussprüche, Anekdoten, Paradoxe, die alle zusammen den Talmud bilden. Der Reiz der hebräischen und aramäischen* Sprache, in ihrer antiken Vornehmheit und Bündigkeit, lockte mich immer von neuem. Die malerischen, bis heute halb hieroglyphischen Zeichen des Hebräischen, ohne Vokale und Interpunktionen, waren meine Lieblingslektüre fast von Kindheit an. Aber vollständig konnte ich mich erst jetzt meiner Vorliebe widmen. Ich sitze und lerne. Wenn ich eines der nicht wenig komplizierten talmudischen Probleme nicht verstehe, wende ich mich an einen älteren, dass er mir es erkläre. Größtenteils aber lerne ich allein. Jede Seite wiederhole ich mindestens
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sechsmal, wie es mir empfohlen wurde. Ich lerne den eigentlichen talmudischen Text sozusagen auswendig, ich lerne die bewunderswert genauen mittelalterlichen Kommentare, die auf jeder Seite um den Text herum gedruckt sind, wie ein Kranz feiner Blüten, in der kleinen Schrift der mittelalterlichen rabbinischen Buchstaben. Zuweilen ziehe ich andere große Bände zu Rate, Kommentare zu jenen Kommentaren.
Das Buch steht hier in großem Ansehen. Es wird geradezu vergöttert. Niemand würde sich beispielsweise auf eine Bank niedersetzen, auf deren anderem Ende ein Buch liegt. Das wäre eine Schmähung des Buches. Nie lassen wir ein Buch verkehrt liegen oder mit dem Anfang nach unten, sondern immer mit dem Anfang nach oben. Fällt ein Buch zu Boden, heben wir es auf und küssen es. Auch wenn wir zu lernen aufhören, vergessen wir nicht, es zu küssen. Es hinwerfen oder irgendeinen anderen Gegenstand darauflegen, wäre Sünde. Trotzdem sind fast alle Bücher jämmerlich zerrissen. Das ist die Folge des fleißigen Studiums. Sind die Bücher schon ganz zerfetzt und unleserlich, bringt sie der Synagogendiener auf den Friedhof, wo sie begraben werden. Nicht das kleinste Stück Papier, auf dem
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hebräische Buchstaben stehen, darf sich auf der Erde wälzen, man darf nicht darauf treten, man muss es begraben. Denn das geringste hebräische Schriftzeichen ist ein Name Gottes. Die Bücher lassen wir nie aufgeschlagen liegen, wenn wir nicht aus ihnen gerade lernen. Müssen wir uns für einen Augenblick fortbegeben und wollen wir das Buch nicht schließen, um dann das richtige Blatt nicht wieder suchen zu müssen, lassen wir es offen, aber decken es wenigstens mit einem Tuch zu. Sieht jemand, dass sich ein anderer vom Buch entfernt hat, ohne es geschlossen oder zugedeckt zu haben, geht er selbst hin und schließt es. Vorerst aber schaut er hinein und liest einige Zeilen darin. Denn würde er es schließen ohne hineinzublicken, würde er mit dem Schließen des Buches die Gedächtniskraft des Gefährten schwächen, der von dem offenen Buch weggegangen ist. Die Pergamentrolle des Gesetzes, die mit der Hand geschrieben ist, halten wir in noch größerer Ehre als die gedruckten Bücher.
Allmählich werde ich auch mit der chassidi-schen Literatur vertraut. Zuerst lese ich das Buch »Reschith chochma« (Der Anfang der Weisheit), jenes kabbalistische Lehrbuch der Askese, Demut und Entsagung, voll herrlicher Zitate aus dem
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geheimnisvollen »Sohar«, sowie aus den »Herzenspflichten« des andalusischen Philosophen Bachja ibn Pakuda. Der »Anfang der Weisheit« ist ein Werk des berühmten Kabbalisten Elijahu de Vidas, der zu Ende des 17. Jahrhunderts in Palästina lebte. Ich lese das Buch »Noam Elimelech« (Wonne des Elimelech) des Rabbi Elimelech von Iisensk, von dessen Wundertaten noch die Rede sein wird. Das Lesen des zuerst genannten Buches hat mir der Rabbi von Bels selbst empfohlen, auf das zweite verwiesen mich die Chassidim. Bald lerne ich auch die übrigen chassidischen Werke kennen, die alten hebräischen, und später auch die modernen. Aber die beiden ersten blieben mir die teuersten. Sie begleiteten mich überall hin; sie waren mit mir während des Krieges im Feld. Wenn ich allein bin und niemand mich sieht, schaue ich in kabbalistische Schriften, deren Studium uns Jungen verboten ist.
Körperlich werde ich schwach und verfalle von Tag zu Tag. Ich fühle das. Das tägliche Bad vor dem Morgengebet, die schlechte Ernährung, die allzu vielen freiwilligen Fasttage, wenig Schlaf, Mangel an Bewegung und freier Luft, das alles schwächt nicht wenig den sonst kräftigen Organismus des heranwachsenden Prager jungen
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Menschen. Aber noch leistet er Widerstand und ergibt sich nicht.
Warum sind wir eigentlich da? Warum dienen wir Gott nicht zuhause? Wollen wir uns denn zu Rabbinern ausbilden oder sollen aus uns vollkommene heilige Menschen werden, wie es unser Belser Rabbi ist? - Ach, keineswegs! Derartiges kommt uns nicht in den Sinn. Wir wollen uns lediglich am licht der göttlichen Erhabenheit erfreuen, das die Person des heiligen Rabbi um sich verbreitet. Wir wollen uns für das ganze Leben daran erfreuen, ständig, ununterbrochen. Und wir wissen: wenn er einmal für immer von uns gehen wird, hinterlässt er uns hier einen anderen heiligen Menschein, seinen erstgeborenen Sohn, der nicht geringer ist als er selbst, wer weiß, vielleicht noch größer. Viele sind schon heute davon überzeugt. Die Zukunft gab ihnen vielleicht wirklich Recht. Doch darüber wage ich nicht zu urteilen.
------Das Morgengebet sprechen wir wochentags erst gegen Mittag, wenn der Rabbi mit seinen Söhnen in das Lehrhaus eilt. In der Synagoge wird nur am Sabbath gebetet. Der Gottesdienst an den Wochentagen, der anderwärts etwa eine Stunde dauert, wird in Bels mit einer geradezu

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auffallenden Schnelligkeit beendet, in 15 bis 20 Minuten. Diese Eile ist besonders bedeutsam. Denn »durch ein Zaunwerk, dessen Pfähle dicht nebeneinander stehen, kann sich ein unreines Tier nicht durchzwängen«, d. h. in das Gebet, dessen Worte rasch und pausenlos ausgesprochen werden, können sich keine sündhaften Gedanken einschleichen. Und »ein Mensch, der nicht in einem Atem tausend Worte aussprechen kann, hat kein Anrecht, ein Heiliger genannt zu werden«.
Dass die Schnelligkeit und Wendigkeit der körperlichen Bewegungen - vor allem bei religiösen Handlungen - eine große Ehre und ein großes Verdienst sind, weil sie die Seele veredeln und das Denken beschwingen, schrieb schon ein Vorläufer des Chassidismus, der italienische Kabba-list und Dichter Moses Chajim Luzzatto in seiner ethischen Abhandlung »Mesilath Jescharim« (Die Bahnen der Aufrechten). Es ist, als ob dieser Strahl der Renaissance-Sonne Italiens bis heute einen besonderen Charakter dem Belser Chassidismus verliehen hätte, der sich in dieser recht schwerfälligen nördlichen Landschaft seltsam ausnimmt. Denn auch die übrigen Chassidim können sich mit dieser unserer Belser Raschheit
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nicht befreunden. Sie sehen in ihr etwas Groteskes.
Noch immer gelte ich als Fremder, mit dem man höflich und rücksichtsvoll umgeht, aber nicht ohne Misstrauen. Die bloße Erfüllung der religiösen Vorschriften, sei es auch der strengsten und minutiösesten, reichen hier nicht zum Vertrauen aus, ebensowenig wie die größte Beflissenheit im Studium. Im Gegenteil. Allzu ängstliche Bigotterie ist nicht erwünscht. Allein, sobald mein Gesicht vom Bart ganz verwachsen ist, die Schläfenlocken groß geworden sind, ich bereits ein wenig Jiddisch sprechen kann und statt des kurzen Rockes die kaftanähnliche »Schibetze« trage, sowie an Werktagen gleich den übrigen Chassidim einen schwarzen Samthut, beginnt allmählich das Eis des Misstrauens zu schmelzen. Warum bin ich aber auch jetzt noch nicht ganz wie die anderen? Warum zum Beispiel bin ich nicht unaufhörlich fröhlich, wie es sich für einen richtigen Chassid gehört? ...
Da schließlich mein Gesicht von Unterernährung und Krankheiten blass geworden und mein elender Körper gekrümmt ist, wird klar, dass ich es »wahrhaft meine«. Das Tor des Chassidismus schließt sich nicht mehr vor dem Prager Jüngling.
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Ich eigne mir das Geheimnis der Demut und Bescheidenheit an. Um diese chassidischen Kardinaltugenden wird mich nichts bringen können. Keine Versuchung.
Mittlerweile hat sich der Schauplatz geändert. Der Unterschied ist freilich nicht groß. An Stelle der ukrainischen Steppe ist jetzt die ungarische Puszta zu sehen. Wir sind nicht mehr im polnischen Bels, sondern in dem nicht minder staubigen ungarischen Städtchen Ujfeherto bei Debre-cin, wohin der Belser Rabbi mit seinem ganzen Hof zu Beginn des Krieges geflüchtet ist.
Der Rabbi ist erkrankt. Nach eindringlichem Zureden entschließt er sich, Marienbad aufzusuchen. Wir begleiten ihn auf seinen Waldwegen. Sonst ist er von uns durch Sekretäre und Diener geschieden, wie Gott von unseren Seelen durch Myriaden von Sphären und Welten. Aber hier, zwischen den Waldbäumen, dürfen wir uns alle ihm nähern. Heiter unterhält er sich mit jedem, wiewohl er schwer krank ist. Wir fühlen, dass seine Worte nicht gewöhnliche Worte sind, auch wenn er von scheinbar ganz alltäglichen Dingen spricht. Jedes seiner Worte, mag es noch so unscheinbar sein, ist bildlich gemeint. Immerwährend denkt er nur an überirdische Dinge. Wenn
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er mit niemandem spricht, wiederholt er im Geist den Talmud, den er auswendig kennt. Alle 36 Teile in den 12 mächtigen Folianten! Einmal sagt er uns auf einem Waldspaziergang: »Wenn ich euch nicht hätte, würde ich hier mit diesen Bäumen beten«...
Ich bin dem heiligen Belser Rabbi unendlich verbunden, denn ich weiß, dass ich nur ihm die Befreiung vom österreichischen Militärdienst zu danken habe: seiner Fürsprache bei Gott. Alles ist wieder, wie es zuvor gewesen ist; der Bart und die Schläfenlocken, die man mir beim Militär abgeschnitten hatte, sind wieder gewachsen.
Gabriel, meinen Prager Kameraden, habe ich schon geraume Zeit nicht gesehen. Er sitzt jetzt in Hivnev bei Bels, lernt dort ordentlich und fühlt sich wohl. Er hat geheiratet. In den Herbstfeiertagen 1918 bin ich wieder in Ujfeherto. Alle sind wir erschöpft, Krankheiten tun das ihre. Aber durch die Welt geht das Zauberwort: Waffenstillstand - Frieden!
Eine merkwürdige Erregung bemächtigt sich des elend gewordenen Prager Jungen. Er selbst begreift nicht recht, was sich mit ihm begibt. Wie fünf Jahre zuvor, als er sich zum ersten Mal nach Bels begab! Eines Tages nimmt er vom heiligen
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Rabbi und den Chassidim Abschied. Er reist ab. Nach Budapest und von hier weiter nach Wien. Zu den Chassidim kehrte er nicht mehr zurück. Europa gibt ihn nicht mehr frei. Er kommt zu
ihnen erst in diesem Buch.------
Die Helden unserer Erzählungen sind die Zaddikim, die Herrscher im Reich der Chassidim. Das Wort Zaddik bedeutet so viel wie: rechtschaffen, vollkommen, heilig. Chassid bezeichnet den besonders frommen Menschen, der von ganzem Herzen einem Zaddik zugetan ist. Begründer des Chassidismus war R. Israel Baal Schem-Tow, der in Polen in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts wirkte. (Er starb etwa 1761.) Hunderttausende chassidischer Gemeinden gab es in Osteuropa, die in vollkommener Abgeschlossenheit von ihrer Umgebung lebten, beherrscht von den Enkeln und Urenkeln jener heiligen Rabbis, von denen ich erzählen will.
Begebenheiten aus dem Leben der heiligen Männer wiederzugeben, ist nämlich eine der verdienstvollsten Taten jedes chassidischen Menschen. Er erzählt deshalb von ihnen bei jeder Gelegenheit: beim Essen, beim Studium, während einer Fahrt im Zug. Vor allem aber, wenn sich der Todestag des Rabbi jährt. Niemals darf man
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beim Aussprechen des Namens irgendeines dieser Rabbi hinzuzufügen vergessen: der heilige.
Wehe dem Hörer, der sich melden wollte, er habe diese oder jene Begebenheit schon gehört! Jeder ist verpflichtet, geduldig die Erzählung zu Ende zu hören, auch wenn er sie schon hundertmal gehört hätte. Auf diese Weise prägt sich freilich im Lauf der Jahre alles dem Gedächtnis ein: die Namen der Helden, ihrer Frauen, der mitspielenden Personen und auch der Ort der Handlung.
Die Chassidim sind sich dessen bewusst, dass keineswegs alles, was sie einander von ihren Heiligen erzählen, sich wirklich zugetragen hat; aber daran liegt nichts. Wenn» vielleicht irgendein Zaddik das berichtete Wunder nicht getan hat, so ist es doch ein Wunder von der Art und Weise, wie nur er die Fähigkeit gehabt hätte, es zu vollführen. Rabbi Nachman von Bratzlaw sagt ausdrücklich, dass »keineswegs alles, was man vom heiligen Baal Sehern erzählt, wahr ist; aber heilig ist auch das, was nicht wahr ist, nur wenn das fromme Volk von ihm, dem heiligen Mann, so erzählt. - Eigentlich ist der Mensch (so meint der gleiche Rabbi) sein Leben lang ständig in einen magischen Schlaf versenkt, den er einigermaßen
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nur beim Erzählen von heiligen Menschen überwindet.«
Die heiligen Rabbis haben gewissermaßen ihre Seele den Legenden eingehaucht, die das Volk von ihnen erzählt. So zeichnet die chassidische Legende das Wesen ihrer Helden vielleicht mit größerer Treue nach, als die Tatsachen andeuten, die sie wirklich vollführt haben und als die Worte ausdrücken, die sie selbst gesprochen haben.
Wenn ich in diesem Buch nicht in rührseligem Ton von den chassidischen Heiligen erzähle, geschieht dies ganz im Sinn der chassidischen Erzähler, die nirgends dem Humor ausweichen, wo er am Platz ist. Dem eigentlichen Begründer des Chassidismus, dem Baal Sehern, dessen Geist über allen unseren Erzählungen schwebt, widme ich hier kein eigenes Kapitel. Die Poesie seiner Legenden ist freilich reiner, die Wahrheiten, die sie verkünden, sind vielleicht tiefer als die Aphorismen seiner Nachfolger. Jedoch wollte ich den Leser vor allem wenigstens mit einigen uns zeitlich näher stehenden Vertretern der chassidischen Bewegung bekannt machen. Gleichzeitig lockte mich hier die Gelegenheit, unter anderem auch Vorfälle mitzuteilen, die bisher vielleicht nie aufgezeichnet worden sind - auch hebräisch nicht,
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und die ich nur in mündlicher Überlieferung kennen gelernt habe.
Es ist nicht die Aufgabe dieses Buches, eine Analyse der chassidischen Lehre zu geben. Ich will unterhalten und getreu unterrichten. Nur einiges zur Orientierung!
Der Chassidismus ist popularisierte Kabbala. Ein eigenartiger, volkstümlicher, zum Teil dogmatischer Pantheismus, vom geheimnisvollen Zauber der Idee eines rabbinischen Neuplatonis-mus durchstrahlt und geistvoll von pseudopytha-goräischen Fäden durchwoben, wuchs dies alles, scharfsinnig auf den alten Stamm des biblischen und talmudischen Judentums gepfropft, im Dämmer unbekannter Umstände irgendwann vor uralter Zeit in Palästina, Ägypten oder Mesopotamien als unscheinbares Gewächs heran. Umgesetzt in das romantische Milieu des katholischen und arabischen Spanien und später wiederum nach Palästina verpflanzt, entwickelte es sich erst in den letzten zwei Jahrhunderten im fruchtbaren Boden des slawischen Nordosten Europas, irgendwo im Schatten der karpathorussischen Wälder und in den Ebenen der Ukraine, zu dem reichverzweigten, märchenhaften Baum, dessen Blüten durch ihre Mannigfaltigkeit so bewun-
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dernswert sind. Verlässliche historische Daten sind nicht viele anzuführen. Das Haupthindernis besteht in der Frage, wann und wo das wichtigste kabbalistische Buch, der Sohar, verfasst wurde, das Ende des 13. Jahrhunderts in Spanien auftaucht. In unseren Erzählungen wird wiederholt Jizchak Lurja Aschkenasi als der »Heilige Ari« erwähnt, ein großer Verkünder der kabbalistischen Lehre. (Er war 1533 in Jerusalem geboren und starb 1572 in Sfad.) Seine Lehre, die sein Schüler Chajim Vital Kalabrese zusammengestellt hat, ist für die Entstehung des Chassidismus sehr bedeutsam.
Mit der platonischen und neuplatonischen Philosophie berührt sich die chassidische Kabba-la in zahllosen Punkten: in der Lehre von den »Sphären«, von der Zusammenziehung des Unendlichen vor der Erschaffung der Welten, in der symbolischen Auffassung aller Erscheinungen (auch in der allegorischen Deutung der Bibel) usw. Mit den Pythagoräern haben die Kabbalisten den Glauben an die schöpferische Kraft der Zahlen (und Buchstaben) gemeinsam, sowie die Lehre von der Seelenwanderung. Hier besteht eine auffallende Übereinstimmung auch mit dem Brahmanismus und Buddhismus. Nur dass zum
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Unterschied von diesen Systemen die Kabbala Lurjas lehrt, dass die menschliche Seele sich nicht nur in Lebewesen, sondern auch in Pflanzen, Gewässern und Mineralien verkörpern könne. Mit den indischen Upanishaden hat die Kabbala etwa die Lehre von den Welten gemeinsam, die der Erschaffung unserer Welt vorausgegangen sind, während die Betonung des weltschöpferischen männlichen und weiblichen Prinzips in der Kabbala an die chinesische Mystik (des Laotse) erinnert. Der Gedanke, dass der Mensch im Ebenbild Gottes geschaffen ist, führt die Kabbalisten zu ähnlichen Vorstellungen vom Mikrokosmos, wie wir sie bei Aristoteles und Plato oder z. B. beim katholischen Mystiker Nikolaus Cusa-nus finden. Die Betonung der ständigen Freude als des wichtigsten ethischen Lebensprinzips verbindet wiederum den Chassidismus mit der mohammedanischen Mystik der Sufiten; und mit der wichtigen Funktion, die die geheimnisvollen »Namen« Gottes und der Engel in der Kabbala haben, nähern wir uns schließlich sogar der äthiopischen und vielleicht auch der altbabylonischen Magie.
In der volkstümlichen chassidischen Mystik begegnen wir diesen so fein verstreuten und ver-
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arbeiteten Elementen, dass wir auf den ersten Blick hin ihr Vorhandensein fast gar nicht wahrnehmen und den Chassidismus etwa als unorganische Zusammenkittung, als einen »Jargon« von Ideen mystischer Weltsysteme bezeichnen könnten. Der Chassidismus ist einem Meer vergleichbar, in das alle mystischen Ströme mündeten, aber nur irgendwo tief im Unterbewusstsein der Geschichte. Brücken ließen sich vielleicht sogar zu zeitlich und räumlich sehr entfernten mystischen Zentren schlagen, aber der Gesamteindruck vom Chassidismus bliebe dabei derart einheitlich und charakteristisch, dass ein Zweifel an seiner Urwüchsigkeit großenteils zerstreut wäre. Die Chassidim freilich weisen darauf hin - und nicht ganz mit Unrecht -, dass die Elemente ihrer Lehre in der einen oder andern Form schon im alten Talmud und teilweise in der Bibel enthalten seien. Zur Bestärkung ihrer Ansicht wollen wir daran erinnern, dass im Mittelalter auch christliche Theologen behaupteten, gewisse philosophische Systeme der Griechen seien eigentlich jüdischen Ursprungs gewesen. In neuerer Zeit war vielleicht nur Nietzsche vom jüdischen Einfluss auf die Philosophie Piatos überzeugt. Nahezu vollkommene Pythagoräer waren im Altertum die
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jüdischen Essäer, wie aus den Bemerkungen des Josephus Flavius hervorgeht.
Zeitlich und örtlich steht der Chassidismus der orthodoxen Kirche am nächsten. Bis zu gewissem Grad, wie ich glaube, auch kulturell. Aber diese Vermutung muss man cum grano saus nehmen, selbst wenn sie in Einzelheiten berechtigt ist. Beachten wir etwa, dass die Vergöttlichung von Heiligen noch zu ihren Lebzeiten, oder dass das Verkosten von Speisen, die durch ihren Mund geheiligt worden sind, Erscheinungen darstellen, denen wir nicht nur in Kreisen der orthodoxen Kirche und beim Chassidismus begegnen, sondern sogar im fernen Tibet. Dass ganz ähnliche Gewohnheiten! deutlich schon unter den antiken Juden verbreitet waren, geht aus einigen Stellen im Talmud klar hervor.
Grenzenloser Glaube, überirdische Freude, Demut, Hoffnung und Menschenliebe, vor allem aber seelische Schlichtheit, sind die Grundlagen der Ethik und der moralischen Kraft dieser legendären chassidischen Welt. Von diesen Tugenden sind die chassidischen »Heiligen« in wahrhaft übermenschlichem Maß erfüllt. Die Schlichtheit ist freilich nicht die ursprüngliche Eigenschaft der komplizierten jüdischen Seele.
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Aber der Chassidismus weiß diese Eigenschaft durch strenge Disziplin großzuziehen. Von hier stammt die naive Raffiniertheit und raffinierte Naivität, die den chassidischen Legenden ihren besonderen Reiz und Zauber verleihen. Denn wiewohl der Chassidismus talmudische Gelehrsamkeit sehr zu schätzen weiß, sieht er streng darauf, dass das Studium nicht der Schlichtheit und Reinheit des Geistes Abbruch tue. Aus diesem Grunde lieben die Chassidim gar nicht das überspitzte Klügeln der gewöhnlichen Talmudi-sten und verbieten die Lektüre der von Aristoteles beeinflussten pseudorationalistischen Werke der jüdischen mittelalterlichen Scholastiker. Selbst die philosophischen Schriften des Mai-monides sind davon nicht ausgenommen, wiewohl sie von einigen chassidischen Rabbis fleißig studiert wurden. Hier zeigt sich besonders der Einfluss des Prager Hohen Rabbi Löw, der unfruchtbare Disputationen gelehrter Talmudi-sten hasste und die philosophischen Spekulationen der mittelalterlichen jüdischen Peripatheti-ker verwarf. Übrigens ist auch in der herzlichen Beziehung der Chassidim zu ihren heiligen Rabbis der Einfluss des Prager Wundertäters zu spüren.
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Trotz der Unterschiede in der Anschauung über Philosophie und über die Art des Talmudstudiums, wie sie sich beim talmudischen und beim chassidischen Judentum zeigen, muss betont werden, dass heute der Chassidismus ebensowenig wie der Talmudismus als irgendeine Sekte im gewöhnlichen Sinn angesehen wird. Die Unterschiede im Ritual sind unbeträchtlich. Von dogmatischen Differenzen kann eigentlich überhaupt nicht die Rede sein. Die Bibel und der Talmud mit allen Kommentatoren und Dezisoren sind für beide Richtungen gleichermaßen autoritativ. Der Hauptunterschied besteht darin, dass der Chassidismus die Geheimlehre, die Kabbala, über alles erhoben hat, ihr konsequent in allem folgt, und sie, wie bereits gesagt, popularisiert hat, während im übrigen strenggläubigen Judentum die Kabbala im ganzen eine untergeordnete und eher bloß theoretische Stellung einnimmt; sie ist höchstens für einige Rabbinen einer der Gegenstände des religiösen Studiums, ohne merklichen Einfluss auf das religiöse Leben. Infolge seiner positiven Haltung zur Kabbala nähert sich der Chassidismus dem orientalischen Judentum, besonders nach der liturgischen Seite nin, ebenso wie in der Lehre von der Seelenwanderung, die dem westeuropäischen Judentum ganz fremd ist. Die schönste Lehre des Chassi-dismus ist zweifellos die von der Durchgeistigung aller Materie. Die ganze Materie ist nach dieser Weltauffassung erfüllt von geistigen »Funken« der göttlichen Heiligkeit. Rein materielle Lebensfunktionen des Menschen wie Essen, Trinken, Baden, Schlafen, Tanzen und der Akt der liebe, werden vom Chassidismus entmaterialisiert und gelten ihm als die erhabensten gottesdienstlichen Handlungen.
Die chassidische Legende ist nicht frei von trüben Stimmungen. Im Ganzen aber ist ihre Mystik lächelnd und heiter, wodurch sie einem so willkommen und lieb wird, ohne dass dabei ihre Tiefe leiden würde.

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Ein Weg entsteht, indem man ihn geht. (Chuang-tzu)

kaeru Offline

Wenigschreiber

Beiträge: 90

01.08.2006 14:10
#6 RE: Chassidische und Kabbalistische Märchen und Geschichten Antworten

Lieber Thomas, mein Bruder,
gerade habe ich gesehen, dass du ein langes Posting gemacht hast.
Danke dir für den Beitrag, der Wissen vermittelt!
Ich selbst bin nicht mehr so oft im Forum, bitte verzeih, wenn ich deine Postings nicht gleich entdecke oder gebührend antworte, ja?
Deine kaeru

Thomas Offline

mishtatef


Beiträge: 297

01.08.2006 16:50
#7 RE: Chassidische und Kabbalistische Märchen und Geschichten Antworten

Zitat von kaeru
Lieber Thomas, mein Bruder,
gerade habe ich gesehen, dass du ein langes Posting gemacht hast.
Danke dir für den Beitrag, der Wissen vermittelt!
Ich selbst bin nicht mehr so oft im Forum, bitte verzeih, wenn ich deine Postings nicht gleich entdecke oder gebührend antworte, ja?
Deine kaeru

Macht nicht liebe Kaeru, ich bin größtenteils auch nicht mehr hier. Zu viel Negative Spannung, du weisst schon Energie.

Yedida Nefesh, Ani LeDodi WeDodi Li.. BaAhawa..

Ach Shalom..
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